Betroffenheit allein reicht nicht.
Stellungnahme des Kirchenvorstandes und des Pfarramtes der evangelischen Kirche Georgsmarienhütte zur juristischen und sozialwissenschaftlichen Studie über die sexualisierte Gewalt in den 1970er Jahren in unserer Kirchengemeinde.
Nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche in Deutschland Ende Januar wurde am 27. Februar 2024 eine eigene juristische und sozialwissenschaftliche Studie zu den Verbrechen sexualisierter Gewalt während der 1970er Jahre in unserer Kirchengemeinde und deren Umgang unserer Landeskirche damit im Jahr 2010 sowie in den 2020er Jahren veröffentlicht.
Die unabhängige Aufarbeitungskommission war auf Antrag des damaligen Kirchenvorstandes der König-Christus-Gemeinde vom 21. Mai 2021 durch die Landeskirche mit der Studie beauftragt worden. Die Studie wurde am 27. Februar 2024 in Hannover vorgestellt. Am 15. März hat sich unser Landesbischof Ralf Meister nebst weiteren Vertretern der Landeskirche dazu geäußert.
Nun haben wir, der Kirchenvorstand und das Pfarramt aus Georgsmarienhütte, lange gebraucht, zu den Ergebnissen und Reaktionen selbst Stellung zu beziehen. Zum einen fällt es uns immer noch schwer, Worte zu diesen für uns unvorstellbaren Verbrechen, der folgenden Verdrängung und Vertuschung zu finden. Zum anderen hat der Umgang der Landeskirche - sowohl mit den Betroffenen als auch mit der Aufarbeitung - insgesamt so viel Vertrauen verspielt, dass der Ärger über die eigene Landeskirche auch uns verunsichert hat. Schließlich haben die Umbrüche in unserem Kirchenvorstand im Frühjahr den Zeit- und Abstimmungsbedarf für das größtenteils ehrenamtlich besetzte Gremium erheblich erhöht. Veränderungen gab es sowohl durch die Fusion unserer drei Gemeinden im Januar und die damit verbundene Auflösung des bisher für die Aufarbeitung zuständigen Kirchenvorstandes der König-Christus Gemeinde als auch durch die turnusmäßigen Neuwahlen im März.
Dennoch haben uns die Veröffentlichung der Studie und die Reaktionen der Landeskirche in den letzten Wochen sehr beschäftigt. Die Studie hat schwarz auf weiß bestätigt, dass ein einzelner Täter großes Leid über viele Menschen gebracht hat. Gemeinderäume und Freizeiten wurden zu Tatorten. Zu lesen, dass diese Menschen bis heute an den Folgen der Taten leiden, macht uns unfassbar traurig. Die Studie zeigt das klare Vertuschen und Versagen des damaligen Pastors Ernst Freitag, des Superintendenten Baehr, der Ausbildungsstätte Falkenburg und des damaligen Kirchenvorstandes. Sie alle handelten ausschließlich zum Schutz der Kirche, nie zur Fürsorge der Betroffenen. Das widerspricht aufs Schärfste unserer christlichen Botschaft. Täter, aber auch Pfarramt und Kirchenvorstand, haben so schwere Schuld auf sich und auf unsere Kirche geladen. Ihre Ignoranz und Missachtung des Schutzes kindlichen Lebens und des Fürsorgeauftrages hat weitere Taten über die Kirche hinaus möglich gemacht, auch in einem örtlichen Sportverein. Das macht uns fassungslos.
Die Studie zeigt auch, dass die Betroffene Lisa Meyer (Name geändert) seit 2010 immer wieder von unserer Landeskirche hingehalten und völlig inadäquat behandelt wurde, was u.a. zu ihrer Retraumatisierung geführt hat und das, obwohl bereits etliche Jahre zuvor in der EKD und in unserer Landeskirche (2002, 2003, 2005) Leitlinien zum Umgang mit sexualisierter Gewalt vorhanden waren. Hier widerspricht die Studie der bisherigen Behauptung der Landeskirche, man habe beim ersten Kontakt mit Lisa Meyer 2010 den damaligen Grundsätzen entsprechend gehandelt, als man Täter und Zeitzeugen aufgrund der Verjährungsfristen in Ruhe ließ und uns als Gemeinde nicht informierte. Dafür hat nach unserer Sicht bis heute niemand Verantwortung übernommen.
Nachdem wir Anfang 2021 über die Geschehnisse informiert wurden, hat Lisa Meyer uns als Kirchengemeinde, zusammen mit dem Superintendenten und seiner Stellvertreterin, auf den Weg der Aufarbeitung mitgenommen. In der Pressekonferenz am 11. Oktober 2021 haben wir schließlich versucht, die Schuld und das vollständige Versagen unserer Kirche zu benennen und den Prozess der Aufarbeitung weiter transparent voranzutreiben.
Im Umgang mit Lisa Meyer haben wir gelernt, wie wichtig die persönliche Begegnung ist, sofern von den Betroffenen gewünscht, also die direkte Auseinandersetzung mit dem Geschehen, den Menschen und ihrem Erleben. Ansonsten bleiben Bitten um Entschuldigung und Betroffenheitserklärungen leer und wertlos. Betroffene müssen persönlich gehört und an allen Phasen einer Aufarbeitung beteiligt werden. Fortgang und Geschwindigkeit ihres Aufarbeitungsprozesses bestimmen sie. Mittlerweile hat auch unser Landesbischof die Auseinandersetzung mit Betroffenen als wesentlich benannt (Pressekonferenz 15. März). Uns erscheint sein Eingeständnis deutlich zu spät, richtungsweisende Änderungen dahingehend sind für uns bis heute nicht sichtbar.
Schuld muss konkret benannt werden. Dass Täter und auch der in den 70er Jahren zuständige Pastor versterben konnten, ohne dass es zu einer Konfrontation mit ihrer Schuld kam, ist schwer erträglich. Es ist eindeutig das Versäumnis des damaligen Landessuperintendenten und der Landeskirche und bis heute so nicht benannt worden. Dass ferner ein so wichtiger Baustein wie die Personalakte des Täters nicht durch das Landeskirchenamt, sondern erst durch uns, Jahre nach dem ersten Bekanntwerden, aufgefunden wurde, ist ebenso kaum zu glauben.
Trotz manch wichtiger Schritte, wie die Einrichtung und die personelle Aufstockung der Fachstelle sexualisierte Gewalt in unserer Landeskirche, die technisch gute Vorbereitung der Pressekonferenz 2021 oder den vertrauensvollen Kontakt zu unserem jetzigen Regionalbischof, muss die Zusammenarbeit zwischen unserer Landeskirche und uns vor Ort als mangelhaft bewertet werden. Fehlte uns bereits während der Aufarbeitung 2021 fachliche Unterstützung, Rollenklärung und Entlastung, um diesen Prozess bewältigen zu können, scheint auch 2024 ein weiterer Austausch und eine konkrete Evaluation der Ergebnisse der Studie seitens der Landeskirche nicht erwünscht zu sein.
Mussten wir schon nach der ersten Pressekonferenz 2021 selbst ein Feedback einfordern, wurden wir auch in diesem Jahr weder für die Veröffentlichung der Studie noch für die Stellungnahme von Bischof und Landeskirche nach unseren Erfahrungen und Meinungen gefragt. Selbst für eine Fachtagung der Landeskirche im April 2024 zu Aufarbeitung bei sexualisierter Gewalt in Loccum waren diese nicht von Interesse. Das ist insbesondere bemerkenswert, da unsere Geschichte durch die Veröffentlichung beider Studien im Frühjahr deutschlandweit von großer medialer Aufmerksamkeit begleitet wurde.
Nicht zuletzt fehlt uns im Prozess der Aufarbeitung eine theologische Auseinandersetzung. Der lapidare Satz des geistlichen Vizepräsidenten unserer Landeskirche (ebenfalls PK im März), die Konfrontation mit den Fällen sexualisierter Gewalt für uns als Kirche „habe etwas von Passion“, ist in theologischer und emotionaler Hinsicht ein Armutszeugnis. Gelitten haben ausschließlich die Betroffenen.
Nun stehen wir weiterhin mitten im Trümmerhaufen der Geschichte unserer Kirchengemeinde - doch Betroffenheit allein reicht nicht. Immer noch wird die Perspektive der betroffenen Menschen völlig unzureichend berücksichtigt. Immer noch geschehen Fehler im Umgang mit sensiblen Daten. Immer noch scheint uns die Zahlung einer Anerkennungsleistung des erlittenen Leides völlig intransparent und unzureichend zu sein. Wir fordern darum von der Landeskirche gerade hier die Menschen, die unter den im Schutzraum der Kirche verübten Verbrechen bis heute leiden, deutlich besser und transparenter zu entschädigen.
Mittlerweile wird in der ganzen Landeskirche, so auch in unserem Kirchenkreis und in unserer Gemeinde an Schutzkonzepten gearbeitet. Ferner sollen alle ehren- und hauptamtlich Tätigen mit Blick auf Prävention sexualisierter Gewalt geschult werden (s. entspr. Artikel Homepage/KONTAKTE). Schutzkonzepte und Maßnahmen zur Prävention sind ein wichtiger Baustein, dass solche Ereignisse wie in den 70er Jahren in Oesede nie wieder passieren. Schutzkonzepte dürfen aber in keinem Fall von anderen Fehlern und nötigen Maßnahmen ablenken. Schließlich scheinen uns auch hier von Seiten der Landeskirche die Ressourcen vor Ort nicht ausreichend im Blick zu sein: also, wer das eigentlich zusätzlich in den Kirchenkreisen und Gemeinden leisten kann.
Wir hoffen mitdieser Stellungnahme allen Betroffenen ein klares Signal zu geben, dass wir ihr Leid und ihre Anliegen sehen und dass wir die immens wichtigen Veränderungen in unserer Kirche und in der Gesellschaft kritisch und konstruktiv voranbringen. Kirchenvorstand und Pfarramt werden die genannten Punkte auch in unsere Kirchenkreiskonferenz, in den Kirchenkreisvorstand und in die Kirchenkreissynode einbringen. Darüber hinaus werden wir eine öffentliche Vorstellung der Studie der unabhängigen Kommission in unserer Stadt anstreben.
Für den Kirchenvorstand und das Pfarramt
Philipp Mamat, Vorsitzender und Nils Donadell, Pastor